REZENSION

Bofane, In Koli Jean. Congo Inc.: Le testament de Bismarck. Actes Sud 2014
Rezension
erstellt von Natalie Tarr

Der Roman Congo Inc. greift viele Aspekte auf, welche die Demokratische Republik Kongo als Teil eines fast undurchdringlichen Netzes an weltweiten Verbindungen, Verstrickungen, Abhängigkeiten, Aktionen und Reaktionen kreieren. Erholsamerweise ist aber nicht das viel zitierte Gerangel und Geraufe um Afrika der Mittelpunkt des Erzählens. Vielmehr werden die Schicksale Einzelner gezeigt, ungeschönt, ironisch, zum Teil auch zynisch und immer mit eloquentem Respekt. Congo Inc. ist vielschichtig. Ohne in Oberflächlichkeit zu verfallen, malt In Koli Jean Bofane seinen LeserInnen mit viel Feingefühl ein farbiges Bild, in welchem fast undurchschaubare und oft chaotische Zusammenhänge erahnt werden können.

Bofane hat spät zum Schreiben gefunden und widmete sich mit ganzer Seele der Entwicklung einer eigenen Sprache – er hatte keine Zeit oder Lust, halbe Sachen zu machen, wie er es ausdrückt. Mit vierzig Jahren hatte er sein erstes, ein Kinderbuch, geschrieben (Pourquoi le lion n’est plus le roi des animaux, 1996 bei Gallimard Jeunesse erschienen), welches verdienterweise den „Prix de la Critique de la Communauté française de Belgique“ erhielt. Er hat darin die Flucht seiner Familie aus dem Kongo verarbeitet, damals 1991, als Mobutus Regime anfing gewalttätig beendet zu werden. Er und seine Familie haben sich in Belgien eine neue Heimat geschaffen. Bofane, der schon als Kind nach Belgien kam – damals 1960 um den Unruhen nach der Unabhängigkeit des neuen Staates Kongo zu entkommen – hatte dort Kommunikationswissenschaften studiert und ist 1983 in den Kongo zurückgekehrt. Als er noch unbehelligt seine Meinung äussern konnte, hatte er ein Grafik- und Werbegeschäft aufgebaut und reist heute zwischen Kinshasa und Brüssel hin und her.

Unter den vielen Aspekten, die Bofanes Congo Inc. äusserst reich machen, finden wir eine Auseinandersetzung mit Gewalt und Willkür durch verschiedene Akteure – nicht zuletzt durch selbsternannte Prediger, die ihre Gefolgschaft skrupellos melken. Bofane hat eine Sprache gefunden um Gewalt, Verachtung, Verstümmelung – kurz, um das Unaussprechbare darzustellen, die an den Rand des Erträglichen geht ohne ins Voyeuristische zu verfallen. Es muss sein, meint er, diese Gewalt zu schildern weil sie Teil des täglichen Lebens im Kongo geworden ist. Militärs, Rebellen, Prediger, Angestelle internationaler Organisationen, oder sonst eine/r der unzähligen Profiteure des Chaos – sie alle sind auf subtile oder direkte Weise ihren Mitmenschen gegenüber gewalttätig. Vor allem Frauen sind dabei betroffen, die wie in Kriegszeiten überall Vergewaltigung, Schändung, Verstümmelung und Erniedrigung erleiden, ertragen und überleben. Es werden in Congo Inc. aber keine Frauen vorgestellt, die nur als Opfer der Umstände ihr Leben fristen, so wie wir es im globalen Norden oft von den Medien dargestellt bekommen. Im Gegenteil, auch hier zeigt uns Bofane, dass Frauen, die unsägliches Leid erfahren haben, sich eine Zukunft vorstellen, sie sich erkämpfen und aufbauen. Wie Adeïto, die Sexsklavin eines abgehalfterten Rebellen, oder Shasha, das Strassenmädchen in Kinshasa….

Isookanga ist es leid im Dorf zu leben, auf seinen Onkel hören zu müssen, während draussen die Welt und all ihre Möglichkeiten auf ihn wartet. Er möchte globalisieren, in die Stadt ziehen und sich durch Arbeit in diese grössere Welt einfügen – er möchte ein Globalisator werden, wie er sich ausdrückt. Dank einer von China gesponserten Funkantenne, die in Nähe seines Dorfes installiert wird, und eines geklauten Laptops erkundet Isookanga schon mal virtuell diese grosse, weite Welt. Schliesslich macht er genau das und bricht auf nach Kinshasa, in die vibrierende Grossstadt mit ihren scheinbar unendlichen Möglichkeiten. Dort freundet er sich mit einer Gruppe Strassenkinder an, deren Geschichten sensibel und ohne zu verschönern beschrieben werden. In diesem riesigen Land, in welchem schon seit Jahrhunderten die Grossmächte der Welt ihre eigenen Interessen verfolgen, sind die Schicksale einzelner Kinder wie Fallobst – Sachen, die passieren und dabei niemanden aufhalten.
Shasha wurde ein Strassenkind und wie für ihre Freunde auch, war dies nicht ein Weg, den sie sich ausgesucht hatte. Durch Gewalt und Krieg dazu gezwungen, musste Shasha sich und ihrem jüngeren Bruder weit weg von zu Hause ein neues Leben erfinden. Ihre Eltern wurden in einem der zahllosen Konflikte in der Kivu Region regelrecht abgeschlachtet als Shasha mit ihren zwei Brüdern ausserhalb des Dorfes nach Erdnüssen suchte. Schonungslos und ohne Sentimentalitäten schildert Bofane, wie das 12-jährige Mädchen mit ihren Geschwistern dem Grauen den Rücken kehrt und mutig in die grosse Stadt geht, zu Fuss und nur mit dem, was sie gerade am Leib trugen. Ein Bruder stirbt unterwegs.

Als Isookanga seinerseits in Kinshasa ankommt, ist Shasha bereits seit ein paar Jahren installiert und schlägt sich als Kinderprostituierte durchs Leben, so wie die meisten weiblichen Strassenkinder. Ihr Stammfreier ist der Verantwortliche des UN Büros in Kinshasa, der seine Vorliebe für pubertierende Kinder an ihr ausleben kann. Shasha drückt ihre Abscheu dem UN Mann gegenüber aus indem sie ihm vergiftetes Essen zubereitet, was ihm unerklärliche, unüberwindbare Bauchschmerzen beschert. Sie und Isookanga befreunden sich und dank seiner kleinen Statur, wird Isookanga von den Strassenkindern akzeptiert, darf sich bei ihnen auf dem zentralen Markt von Kinshasa einrichten und wird sogar ihr erwählter Wortführer. Er ist ein (halber) Ekonda, also als Erwachsener klein wie ein Kind und wird deshalb von den Strassenkindern aufgenommen. Sie nennen ihn „vieux Iso“. Mit dem jungen Chinesen Zhang Xia, dessen Schicksal auch Teil dieses globalen Kampfes um Reichtum und Ressourcen im Kongo ist, steigt Isookanga bald in das Geschäft als Strassenverkäufer von gekühltem Wasser ein und hat so den ersten Schritt in Richtung seines Ziels, der Globalisierung getan.

Mit Ironie und auch zartem Zynismus portraitiert Bofane den selbsternannten Prediger der christlich-evangelikalen Pfingstkirche Église de la multiplication divine, der auf seine Garderobe achtet (Hugo Boss! J.M. Weston!) und gerne im neuesten Geländewagen vorfährt. Mit bodenloser Skrupellosigkeit beutet der Prediger Jonas Monkoya seine Gemeinde aus, doch Bofane zeichnet dessen Erfindungsreichtum mit solch eloquenter Ironie, dass LeserInnen geneigt sind ein leises Gefühl der Bewunderung für Monkoyas Machenschaften zu empfinden. Der Mann ist sich selber treu bis hin zur Einführung eines göttlich geführten Bankkontos, auf welches seine Schäfchen ihr letztes, hart erworbenes Geld einzahlen. Schonungslos auch hier Bofanes bissiger Humor, kann doch ein Ausbeuter nur optimal funktionieren, wenn er die findet, die sich auch ausbeuten lassen. Doch es wird dem Leser und der Leserin überlassen, zu ergründen, warum Menschen auf solch offensichtliche Selbstbereicherungstaktiken hereinfallen und sich dabei noch als gerettet, gar auserwählt empfinden. Noch eine Facette dieser Hingabe zur Religion wird durch die Behandlung von Modogo, dem Hexen-Kind, durch seine Familie und deren Pfarrer erahnbar.

Die Art, LeserInnen selber denken zu lassen, ist eine der grossen Stärken Bofanes. Er zeichnet ein Bild, welches nicht endgültig vorgekaut und interpretiert ist, sondern überlässt seinen LeserInnen das Ertasten und Begreifen von Zusammenhängen. Bofane greift in Congo Inc. Themen auf, die hochaktuell sind. Evangelikale Bewegungen überschwemmen seit einiger Zeit den afrikanischen Kontinent und wachsen rasant. Eine Ironie der Geschichte, war es doch die christliche Religion, welche dem zunehmend säkularen Europa abhanden zu kommen scheint, die dem kolonialen Projekt in mehrfacher Weise zu diente. Heute migriert das Christentum in neuer, inbrünstiger Form von Afrika nach Europa zurück
– neu verpackt von Süd nach Nord.

Congo Inc. lässt auch unweigerlich die (ewige) Frage aufkommen, was denn ein afrikanischer Autor, eine afrikanische Autorin sei? In Koli Jean Bofane beantwortet diese Frage elegant und umgeht eine Reduzierung auf Hautfarbe: er sei ein belgischer Autor mit afrikanischen Wurzeln und Rationalität. Dass die frankophone Literatur Afrikas mehrheitlich die Begegnung Afrikas mit Frankreich oder Belgiens darstellt, hat Wissenschaftler dazu bewogen vom anhaltenden Frankozentrismus afrikanischer Literatur zu sprechen (1). Doch Congo Inc. sprengt dieses Klischee und zieht nicht nur Chinas Präsenz im Kongo in die Erzählung mit ein, sondern folgt Zhang Xias Schicksal bis nach Hause zu seiner Frau und Sohn in Chonqing in Sichuan, China. Sie näht dort Plastikkaurimuscheln auf kleine Lederquadrate auf um sich und ihr Kind zu ernähren – gadgets, die Touristen in Burkina Faso und Senegal erstehen. Ihr Mann Zhang Xia wird schlussendlich zum Spielball undurchschaubarer öko-politischer Beziehungen zwischen China und Kongo und unter einem Vorwand zurück nach China abgeschoben. Auch nach New York bringt Bofane seine LeserInnen in Congo Inc., ins UNO Hauptquartier, wo ebenfalls geschäftig über die Zukunft des Kongo diskutiert und entschieden wird.

Doch das und noch andere hochaktuelle, unerwartete Aspekte erfährt der/die geneigte LeserIn bei der Lektüre selber – zur Zeit noch auf Französisch, sehr bald auch auf Deutsch. Die Übersetzung ins Deutsche ist in Bearbeitung. Katja Meintel, die bereits Bofanes ersten Roman Mathématiques congolaises (Actes Sud 2008) auf Deutsch als Sinusbögen überm Kongo (Horlemann Verlag 2013) übersetzt hatte, wird voraussichtlich ihre Arbeit Ende 2015 abschliessen.

Natalie Tarr ist Doktorandin am Zentrum für Afrikastudien der Universität Basel. Als linguistische Ethnologin setzt sie sich in ihren Forschungen mit der Rolle des Dolmetschers in der heutigen Administration in Burkina Faso und Côte d’Ivoire auseinander. Ihr Hauptinteresse gilt dabei Sprachideologien und der Art und Weise wie Sprache benutzt wird um Hierarchisierungen aufrecht zu erhalten. Afrikanische Literatur erlaubt eine zusätzliche Sicht und ist deshalb zentral in ihren Recherchen.

Fußnoten

1. Christopher L. Miller befasst sich mit frankophoner Literatur in seinem Buchkapitel The Slave Trade, La Françafrique, and the Globalization of French, erschienen in: McDonald, Christie and Susan Rubin Suleiman (eds.) 2010. French Global: A new Approach to Literary History. Columbia University Press: 240-256